Jenseits des Geldes: Eine kulturphilosophische und systemische Analyse für eine postmonetäre Gesellschaft

Jenseits des Geldes: Eine kulturphilosophische und systemische Analyse für eine postmonetäre Gesellschaft

Einleitung – Erlebbar denken, Einladung zur Transformation

Ich schreibe nicht für Universitäten, sondern für Menschen, die spüren: Unser System trägt uns nicht mehr. Hier erzähle ich von einer Alternative, die ich versuche zu leben, für die ich Erfahrungen sammeln und gestalten möchte – begonnen hat alles mit dem Projekt um Torre San Teobaldo. Eine Haus- und Landbesetzung in den Hügeln des Piemont aus Protest des Zugangs zu Land für junge Menschen. Es ist Analyse, Erzählung, Einladung – alles in einem.

Ich schreibe über eine Möglichkeit, nicht über ein Dogma. Über etwas Ursprüngliches, das zugleich revolutionär wirkt: die Idee, dass wir leben können, ohne Geld. Nicht weil wir ins Mittelalter zurück wollen, sondern weil wir in eine andere Zukunft aufbrechen.

Abstract:

Ich untersuche die konzeptuelle, historische und praktische Fundierung einer geldfreien Weltordnung – kulturphilosophisch, sozialpsychologisch und kritisch-ökonomisch. Meine Imaginationsreise wird zur inneren Landkarte. Ich verknüpfe den Untergang Roms mit der heutigen Krise, verweise auf Ansätze wie Commons, Degrowth, Schenkwirtschaft und radikale Akzeptanz. Am Ende liegt eine Toolbox mit Formaten und ein Handlungsplan bereit – konkret umsetzbar, erlebbar, verbunden mit dem real existierenden Projekt am Turm.

Warum eine geldfreie Welt denkbar und notwendig ist

Die gegenwärtige Weltlage ist geprägt von einer multiplen Krise, die in ihren Ursachen tief im strukturellen Gefüge unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsform verankert ist. Der Klimawandel schreitet ungebremst voran, die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich global, psychische Erkrankungen steigen in beispielloser Geschwindigkeit und essentielle Ressourcen wie Wasser, Boden und Luft geraten zunehmend unter Druck (Brand & Wissen, 2017; Jackson, 2009). All diese Symptome lassen sich auf ein dominierendes Paradigma zurückführen: den Kapitalismus, insbesondere in seiner neoliberalen Ausprägung, der den Menschen auf seine Verwertbarkeit reduziert und das Leben auf Tausch, Wachstum und Kontrolle verkürzt.

Das gegenwärtige Geldsystem bildet das zentrale Steuerungsinstrument dieser Logik. Es definiert Wert über Marktpreis, organisiert Zugang über Kaufkraft und erzeugt dadurch permanente Konkurrenz, Mangelgefühle und Angst vor dem sozialen Abstieg. Dieses System schafft systematisch Verliererinnen und degradiert selbst essentielle Lebensgüter wie Wasser, Nahrung oder Wohnraum zu Waren (Eisenstein, 2011). In der Folge entstehen systemische Blockaden: Menschen arbeiten nicht mehr, weil es Sinn ergibt, sondern weil sie es müssen. Unternehmen handeln nicht mehr ökologisch, sondern profitmaximierend. Staaten sichern nicht die Lebensgrundlagen ihrer Bürgerinnen, sondern die Stabilität des Marktes.

Zugleich zeigt sich eine wachsende Gegenbewegung. Immer mehr Menschen spüren, dass „mehr vom Gleichen“ keine Lösung sein kann. Ansätze wie Degrowth, die Commons-Bewegung, solidarische Landwirtschaften und Schenkgemeinschaften bezeugen eine tiefgehende Suche nach Alternativen. Die geldfreie Welt ist keine weltfremde Utopie, sondern eine logische Konsequenz aus der Erkenntnis, dass das bestehende System seine eigene Lebensgrundlage zerstört. Nicht nur in meinem Unterstützernetzwerk, die mit mir den Turm besetzen – Zugang zur Natur suchen, ein Stück Land zurückfordern. Genau dort setze ich an: Wir schaffen ein Modell, das nicht mehr aus Kaufkraft, sondern aus Verbundenheit entsteht. Wir brauchen keine Rückkehr ins Mittelalter, sondern Aufbruch in ein neues Miteinander.

Der vorliegende Artikel will diese Alternative nicht nur theoretisch beschreiben, sondern als tiefgreifende kulturelle Transformation fühlbar machen – mit Argumenten, Beispielen und praktischen Werkzeugen.

Imaginationsreise – Die Welt, wie sie sein könnte

Stell dir vor, du trittst durch ein Tor aus Holz und Lehm. Kein Schild, kein Eintritt. Nur ein Pfad. Du gehst in ein Dorf, das nicht aussieht wie ein Utopia, aber sich so anfühlt. Menschen arbeiten – nicht weil sie müssen, sondern weil sie beitragen wollen. Es riecht nach Brot, frisch gebacken im Lehmofen. Eine ältere Frau reicht dir ein Stück. „Willkommen“, sagt sie, „du brauchst nichts. Nur dich.“

Ein Kind kommt auf dich zu. Es gibt dir einen kleinen Zettel. „Das ist ein Bono“, erklärt es dir. „Ein Zeichen, dass du da bist.“ Du hast mir geholfen, Wasser zu holen. Nicht aus Pflicht. Aus Verbundenheit. Bonos sind keine Währung. Sie sind Spuren von Teilhabe.

In diesem Ort ist nichts anonym. Nahrung, Wasser, Werkzeuge, Räume – sie gehören allen. Oder besser: sie sind von allen. Was gebraucht wird, wird gegeben. Was vorhanden ist, wird geteilt. Wer es nicht geben kann, wird getragen.

Du spürst: Das hier ist nicht Armut. Das ist Fülle. Kein Zwang. Kein Mangel. Kein Preis. Nur Verbindung und Synergie.

Diese Imaginationsreise dient nicht nur der emotionalen Einstimmung. Sie ist methodisch zentral: Denn gesellschaftlicher Wandel beginnt im Vorstellungsvermögen. Wenn wir uns keine andere Welt vorstellen können, werden wir auch keine erschaffen. Das Bild eines Dorfs, das auf Vertrauen statt Kontrolle, auf Beziehung statt Besitz, auf Gaben statt Geld beruht, ist daher nicht nur poetisch, sondern politisch. Es fordert uns heraus, unsere Grundannahmen zu hinterfragen – und eröffnet gleichzeitig einen erfahrbaren Möglichkeitsraum.

Historische Analogie: Der Untergang Roms und die Systemmüdigkeit der Moderne

Der Untergang des Römischen Reiches ist nicht bloß ein historisches Ereignis, sondern ein kulturelles Gleichnis. Rom war über Jahrhunderte die dominierende Ordnungsmacht. Doch im Innern zerfiel, was äußerlich glänzte. Die wirtschaftliche und soziale Struktur Roms beruhte auf Kolonialismus, Sklaverei und einer massiven Umverteilung von unten nach oben. Die ländliche Bevölkerung verarmte, während die Eliten sich in Luxus und Dekadenz verloren. Der öffentliche Raum verödete. Die Bürger*innen zogen sich aus der res publica zurück.

Die Parallelen zur Gegenwart sind frappierend. Auch unsere globale Ordnung ist geprägt von einer zunehmenden Ungleichverteilung von Vermögen, einer konsumistischen Dekadenzkultur und einer Politik, die das Gemeinwohl immer wieder ökonomischen Interessen unterordnet. Der Klimawandel ist das sichtbarste Symptom einer inneren Erschöpfung – einer Zivilisation, die über ihre ökologischen, psychischen und sozialen Verhältnisse lebt.

Wie im Rom der Spätantike halten wir an einem System fest, das uns strukturell schadet. Statt Sinn zu schaffen, sichern wir Strukturen. Statt Leben zu ermöglichen, optimieren wir Märkte. Die Analyse des Untergangs Roms macht deutlich: Nicht äußere Feinde, sondern innere Widersprüche zerstören Gesellschaften. Genau hier setzt die Idee einer geldfreien Welt an – als präventive Antwort auf ein absehbares Zivilisationsversagen.

Historische Verbindung: San Teobaldo als geistiger Wächter

San Teobaldo, der Namensgeber der Hanglage, verliehen von dem Urgroßvater der Eigentümerfamilie und von mir auf den Turm projiziert, war ein Pilger und Einsiedler aus dem 11. Jahrhundert. Mein Vorbild. Er suchte nicht Reichtum, sondern Stille, Naturverbundenheit und inneres Wachstum. Er verließ die bürgerliche Ordnung seines adeligen Ursprungs, um ein Leben in Einfachheit und spiritueller Tiefe zu führen. In der Tradition der wandernden Heiligen durchstreifte er die Landschaft auf der Suche nach Sinn – nicht nach Besitz.

In dieser Haltung erkenne ich eine tiefe Resonanz mit unserer heutigen Suche nach einem geldfreien Leben. Der Turm, den wir besetzen und wiederbeleben, trägt seinen Namen nicht zufällig. Er ist kein Besitzobjekt, sondern ein Zufluchtsort für junge Menschen, die – wie Teobaldo – nach Zugang suchen: zu Land, Gemeinschaft, Natur, einem anderen Leben.

Der heilige Teobaldo stand für Rückzug und Verbindung, für Arbeit mit den Händen und ein Leben im Einklang mit Erde und Himmel. Diese Werte sind heute wieder radikal modern – und revolutionär in einer Zeit, die den Menschen auf Effizienz und Ertrag reduziert.

Der Turm wird zum Symbol:

Nicht für Rückzug aus der Welt – sondern für einen neuen Eintritt in sie, jenseits von Geld, jenseits von Verwertung.

Ein Ort für Erinnerung, Verwandlung – und gelebte Utopie.

 

Theoretische Fundierung einer geldfreien Ordnung

Die Idee einer geldfreien Gesellschaft lässt sich nicht aus bloßem Idealismus herleiten, sondern basiert auf einer Vielzahl interdisziplinärer Theorien und praktischer Erprobungen. Vier zentrale Fundamente sollen hier ausgeführt werden: Commons-Theorie, Schenkwirtschaft, Degrowth und die Psychologie radikaler Akzeptanz.

Commons & Allmendepraktiken

Elinor Ostrom (1990) hat mit ihrer Arbeit zur kollektiven Verwaltung von Gemeingütern bewiesen, dass Menschen in kleinen bis mittelgroßen Gemeinschaften in der Lage sind, Ressourcen wie Wasser, Wälder oder Fischbestände nachhaltig und gerecht zu teilen – ohne staatliche oder marktliche Steuerung. Das Prinzip der Allmende wird heute durch Projekte wie Urban Gardening, freie Software (Open Source) oder Community Supported Agriculture (CSA) weiterentwickelt (Helfrich & Bollier, 2019).

Schenkwirtschaft & Beziehungsökonomie

Marcel Mauss (1925) zeigte in seiner bahnbrechenden Studie „Die Gabe“, dass frühere Gesellschaften nicht durch Marktmechanismen, sondern durch soziale Verpflichtungen des Schenkens, Gebens und Wiedergebens strukturiert waren. Charles Eisenstein (2011) entwickelt dieses Modell weiter zur Idee der „heiligen Ökonomie“, in der Geben ein Akt der Verbindung ist, nicht der Schuld.

Degrowth & radikale Genügsamkeit

Die Degrowth-Bewegung fordert ein bewussteres Leben mit weniger Konsum und Ressourcenverbrauch, nicht als Verzicht, sondern als Gewinn an Lebensqualität, Zeit und Gemeinschaft. Geldfreiheit erscheint hier nicht als Extremform, sondern als konsequente Umsetzung der Grundidee: Weg vom Haben – hin zum Sein (Paech, 2012; Latouche, 2009).

Psychologie der radikalen Akzeptanz

Veränderung beginnt im Innern. Wer sich selbst und andere nicht nur als Funktionsträger begreift, sondern als wertvoll in seinem Sein, öffnet sich dem Teilen, dem Vertrauen, dem Unplanbaren. Die dialektisch-behaviorale Therapie (Linehan, 1993) wie auch humanistische Psychologie (Fromm, 1976) betonen: Nur wer sich selbst annimmt, kann echte Verbindung leben.

Die Toolbox: Formate zur Erfahrbarkeit einer geldfreien Gesellschaft

Eine neue Kultur lässt sich nicht nur denken – sie muss erlebt, verkörpert und gelebt werden. Die folgende Toolbox stellt Formate vor, die in Bildung, Gemeinschaftsprojekten oder Pilotdörfern angewandt werden können.

Erfahrungsformate:

  • Kollektives Kochen und Essen ohne Bezahlung: Jeder bringt, was er kann. Es wird gemeinsam zubereitet, genossen, aufgeräumt – ohne Zwang, ohne Schuld.

  • Wildkräuterwanderung: Naturwissen wird geteilt, keine Bezahlung – nur Teilnahme.

  • Bonotafeln: Symbolische Erfassung von Beiträgen – nicht als Kontrolle, sondern als Spiegel der Verbundenheit.

Workshops:

  • „Teilen ohne Erwartung“: Übungen zur Entkoppelung von Geben und Nehmen.

  • „Commons erleben“: Gruppenprojekte zur kooperativen Aufgabenbewältigung.

  • „Radikale Akzeptanz“: Persönlichkeitsarbeit im geschützten Kreis.

Kulturelle Praktiken:

  • Dankbarkeitsrituale, Erzählsalons, offene Mittagstische, Tauschringe ohne Geld.

Digitale Instrumente:

  • Netzwerke von geldfrei lebenden Initiativen (z. B. Bonodorf-Karte)

  • Podcast-Serien und Videoporträts

Umsetzung: Ein Handlungsplan für lokale Transformation

Der Wandel beginnt im Kleinen. Der folgende Ablauf basiert auf Erkenntnissen aus Transitions-Initiativen, ZEGG, Tamera und selbstorganisierten Gemeinschaften:

Monat 1:

  • Öffentliche Veranstaltung mit Imaginationsreise & Manifest

Monat 2–3:

  • Einführung eines Bonosystems (nicht speicherbar, freiwillig)

  • Erste Austauschformate starten (z. B. „Was ich teilen kann“)

Monat 4–6:

  • Aufbau eines „Allmendekreises“ zur kollektiven Organisation von Raum, Wasser, Essen, Werkzeugen

Monat 6–12:

  • Dokumentation der Erfahrungen

  • Digitale Sichtbarmachung

  • Einladung weiterer Orte zur Vernetzung

Ab Jahr 2:

  • Regionale Verbünde, Gemeinwohl-Charta, politische Dialogformate

 

Fazit: Kulturwandel statt Systemreform

Die Analyse zeigt: Das bestehende geldzentrierte System ist nicht reformierbar im Sinne von „gerechter machen“. Es reproduziert unweigerlich Ungleichheit, Ausbeutung und Entfremdung. Eine wirkliche Alternative muss an der Wurzel ansetzen: beim Menschenbild, beim Wertverständnis, bei der sozialen Praxis.

Eine geldfreie Gesellschaft ist kein Rückschritt. Sie ist eine Zukunftserzählung, die auf Empathie, Erdung, Teilhabe und Verantwortung basiert. Sie ersetzt Kontrolle durch Vertrauen, Mangel durch Fülle und Wettbewerb durch Zusammenarbeit.

Wir stehen nicht vor einem ökonomischen Problem. Wir stehen vor einer kulturellen Entscheidung.

Schlusswort – Erinnerung an das Mögliche

Was du hier gelesen hast, ist kein fertiges System. Es ist eine Einladung. Eine Erinnerung. An das, was Menschen füreinander sein können. An das, was wir aufgeben könnten – Angst, Kontrolle, Bewertung – um etwas Größeres zu gewinnen: Vertrauen und Wohlgefallen

Geldfreiheit ist keine Technik. Sie ist ein kultureller Wandel. Sie beginnt, wenn wir anders aufeinander schauen. Wenn wir wieder fragen: Was brauchst du? Was kann ich geben?

Es ist Zeit, diesen Wandel zu leben.

Nicht später. Jetzt.

 

Literaturverzeichnis

  • Brand, U., & Wissen, M. (2017). Imperiale Lebensweise. Oekom.

  • Demaria, F., Schneider, F., Sekulova, F., & Martinez-Alier, J. (2013). What is Degrowth? Ecological Economics, 93, 191–200.

  • Eisenstein, C. (2011). Sacred Economics. Evolver Editions.

  • Fromm, E. (1976). Haben oder Sein. DTV.

  • Gibbon, E. (1994). The History of the Decline and Fall of the Roman Empire. Penguin Classics.

  • Helfrich, S., & Bollier, D. (2019). Frei, fair und lebendig. Transcript.

  • Jackson, T. (2009). Prosperity Without Growth. Earthscan.

  • Latouche, S. (2009). Farewell to Growth. Polity.

  • Linebaugh, P. (2008). The Magna Carta Manifesto. University of California Press.

  • Linehan, M. (1993). Cognitive-Behavioral Treatment of Borderline Personality Disorder. Guilford Press.

  • Mauss, M. (1925). Die Gabe. Suhrkamp.

  • Ostrom, E. (1990). Governing the Commons. Cambridge University Press.

  • Paech, N. (2012). Befreiung vom Überfluss. Oekom.

  • Piketty, T. (2014). Capital in the Twenty-First Century. Harvard University Press.

  • Ward-Perkins, B. (2005). The Fall of Rome and the End of Civilization. Oxford University Press.

 

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